Es gibt keine erste Schuld

Seelenpartner versus Seelengefährte? Teil 7

Wer ist sich absolut sicher, nie auf Rücksicht durch andere hoffen zu müssen?
Jan Norman

Die Ausführungen über Opfer und Täter sind mit Schuld und Verantwortung verknüpft, mit der Mitverantwortung oder der gemeinsamen Verantwortung für sowohl glückliche als auch gescheiterte Beziehungen. Die Auseinandersetzung damit ist nicht nur geboten, um die Kette unglücklicher oder gescheiterter Beziehung zu beenden. Sie ist für alle geboten, die ihr Leben selbst gestalten wollen.

Schuld und Verantwortung oder Opfer und Täter lassen sich rechtlich, philosophisch, theologisch, moralisch oder ethisch beleuchten. Darum geht es hier nicht, wenn auch die folgenden Aspekte immer den Kategorien zugeordnet werden können. Hier geht es um das Verständnis darum, warum gerade Seelenpartner Missbrauch und Gefahr bedeuten können und wie man diese Klippen meidet.

Gestörte Gerechtigkeit

Schuld und Verantwortung sind mit Gerechtigkeit verknüpft. Die Gerechtigkeit wurde gestört, also gibt es Schuldige oder Verantwortliche. Das mag einleuchten. So simpel ist das nicht, denn wer definiert die Gerechtigkeit, wer bestimmt, was gerecht ist?

Wer nach Partnern oder Seelenpartnern sucht, wer glückliche Beziehungen leben will, jedoch die Auseinandersetzung mit Aspekten wie Schuld und Verantwortung scheut, wird seine Ziele nicht erreichen. Das klingt rigoros. Aber das ist das Leben, das Lernen und die Liebe.

Die Schuld

Schuld meinte zunächst sprachlich die rechtliche Verpflichtung zu einer Buße. Später drängten sich die Sünde und das Vergehen sowie der Schuldige in den Bedeutungsvordergrund. Der Schuldige ist ein Sünder, der eine böse Tat begeht, wodurch er verpflichtet ist, diese Tat zu sühnen. Bekennt sich jemand schuldig, verpflichtet er sich zur Sühne.

Für den anderen Menschen entsteht keine Pflicht. Er hat ein Recht auf die Wiedergutmachung durch den Schuldigen. Dies befreit das Opfer von jeglicher Auseinandersetzung mit dieser Tat, mit den Wegen zu ihr, mit ihren Gründen. Die Frage, ob der Betroffene dazu mitbeigetragen haben könnte, stellt sich ihm nicht.

Schuld ist der andere, ich bin der Betroffene mit dem Recht auf eine Wiedergutmachung. Das scheint gerecht zu sein. Das kann gerecht sein, vornehmlich im juristischen Sinne. Es ist aber immer fatal. Mal mehr, mal weniger, mal nur fatal. Und es führt dazu, dass Schuld- und Opferfragen weiterhin das Leben stören.

Schuld ist Bestrafung

Schuld zielt auf die Bestrafung des Schuldigen ab. Die Bestrafung mag Wiedergutmachung genannt werden, doch ist das nur ein Euphemismus, um das böse Wort »Strafe« zu verdrängen.

Die Wiedergutmachung soll durch eine Bestrafung des Schuldigen erfolgen. Er muss Zahlungen leisten, er muss ins Gefängnis. In manchen Ländern, Kulturen oder Religionen können die Strafen grauenvoll ausfallen, sie können den Tod des Schuldigen bedeuten.

Auch gemäßigte und demokratisch-juristisch korrekte Strafen können das Leben des Schuldigen zerstören. Der Schuldige verliert seine Familie, seine Familie leidet, wird stigmatisiert. Er verliert den Rest seines Glaubens oder Vertrauens in die Gesellschaft, in den Menschen, in das Leben. Er wird vom Schuldigen zum Verbrecher. Er begeht Suizid.

Ist all das gut und richtig, da er der Schuldige war, da es so die Gerechtigkeit wollte?

Schuld ist destruktiv

Schuld will nicht Neues kreieren, Schuld festigt oder vervielfältigt das Böse, um den schuldorientierten Terminus zu gebrauchen. Schuld nimmt Folgen in Kauf, die weiteres Unrecht generieren.

Schuld stellt bloß, Schuld entwürdigt, Schuld demütigt. Nicht nur der Schuldige ist dabei betroffen. Dieses Los droht seiner Familie, seinen Freunden, seinen Kollegen. Es droht allen Menschen, die das Böse in diesem Menschen nicht sahen und ihm nahestanden.

Wer ist sich absolut sicher, keinem Menschen nahezustehen, der in einer Grenzsituation so reagiert, dass ihn die Gesellschaft zum Schuldigen erklärt?

Wer ist sich absolut sicher, nie einen Unfall zu verursachen, der andere das Leben kostet?

Schuld ist Entmenschlichung

Schuld entwertet einen Menschen, spricht ihm die Menschlichkeit ab. Der Schuldige ist ein Monster, eine verabscheuungswürdige Existenz, ein Wesen, welches keine Güte, kein Verständnis, keine Vergebung verdient. Welches im Extremfall kein Leben verdient.

Der Schuldige ist entmenschlicht, entwürdigt, jeglichen guten Wertes beraubt. Er ist ein seelenloses Monster, welches die Strafe verdient.

Wer sich religiös oder spirituell wähnt, darf nicht in diesen Kategorien urteilen und verurteilen. Es sei denn, er hängt einem sadistischen Gott nach, der Strafe, Rache und Vergeltung liebt. Dieser Gott liebt aber nicht den Menschen, er würde sonst nicht auf Rache aus sein, er würde weiterhin lieben.

Wer huldigt einem Gott, der Strafe, Rache und Vergeltung fordert?

Schuld ist rücksichtslos

Schuld nimmt keine Rücksicht auf die individuellen Biographien des Menschen. Für die Schuld sind die Erfahrungen, Prägungen, Schicksale des Schuldigen nicht relevant. Schuld stellt keine Frage nach dem Weg des Schuldigen zu seiner Tat.

Der Schuldige ist schuldig. Er kann es juristisch einwandfrei sein, er kann es moralisch sein.

Ist er moralisch oder ethisch einwandfrei schuldig? Ist er de facto schuldig? Es sind  vollstreckte Todesurteile bekannt, bei denen im Nachhinein die Unschuld des Getöteten festgestellt wurde.

Wer ist sich absolut sicher, nie auf Rücksicht durch andere hoffen zu müssen?

Schuld ist Angst

Schuld ist immer mit der Angst vor einer Bestrafung verbunden. Jetzt will ich nicht von dem Schuldempfinden reden, das erörtere ich später. Der Schuldige verstieß gegen die Regeln des kollektiven Zusammenleben, der Schuldige muss bestraft werden. Das Kollektiv fragt nicht nach der Moral oder Ethik der Regeln, das Kollektiv fragt nicht nach Gründen für den Verstoß. Das Kollektiv hinterfragt nicht.

Fatal am Kollektiv ist die Selbstverständlichkeit, mit der es seine Regeln zu moralischen oder heiligen Doktrinen erhebt. Es bedarf nicht mal eines Verstoßes gegen die Regeln, es reicht ihre Hinterfragung. Beides gefährdet das Kollektiv, beides muss bestraft werden.

Die Strafen konfrontieren potenzielle Abweichler oder Hinterfragende mit der Angst. Angst ist das Zwangsbindemittel des Kollektivs. Dessen bedienen sich sowohl die kleinen Gruppen als auch die großen Institutionen, sowohl die guten als auch die bösen, wer auch immer diese Kriterien vergibt: Gangs, Mafias, Staaten, Kirchen, Familien.

Angst hält fest, aber nicht langfristig. Mal früher, mal später aber unausweichlich zerfallen kollektive Gebilde, die auf Angst beruhen, wenn diese Angst an Macht oder Glaubwürdigkeit verliert. Gegenwärtig merkt das eine Institution, die viele Jahrhunderte lang mit ewigen Ängsten operierte und ihre Mitglieder unterdrückte. Heute bröckelt diese Institution, da sie nicht mehr glaubhaft mit der Angst vor einer ewigen Verdammnis durch einen sadistischen Gott arbeiten kann.

Kollektiven, denen die Arbeit mit der Angst vor der Bestrafung noch gelingt, sehen  ähnlichem Schicksal entgegen. Mal früher, mal später, mal viel später. Aber unausweichlich und für sie zu spät. Und das ist ein gutes Ende.

Schuld ist keine Heilung

Schuld ist destruktiv, da sie den Menschen zerstört (s. oben, Kapitel »Schuld ist destruktiv«). Destruktiv ist sie ebenfalls, da sie die konstruktiven Wege verbaut. Sie verbaut die Wege zur Heilung. Definitiv bei Schuldigen, die ihr Vergehen mit dem Leben bezahlen müssen. Darf er sein Leben behalten, verliert er nur seine Freiheit, steht wieder die abschreckende Angst im Vordergrund. Die Angst, nicht die Hilfe.

Wer nun einwendet, Schuldige würden keine Hilfe verdienen, kann sich erneut die Frage stellen: Wer ist sich absolut sicher, nie auf Rücksicht durch andere hoffen zu müssen?

Kein Kollektiv ist fehlerfrei, kein Kollektiv bleibt auf ewig. Wer sich nicht entwickelt, geht unter. Da Abweichler und Hinterfragende bestraft werden, beraubt sich das Kollektiv der Chancen für sich organisch entwickelnde Wege der Erneuerung und Anpassung. Wenn die Kirche Geschiedene von der Teilnahme an ihren Riten ausschließt, wirkt sich das nicht nur auf diese Gruppe aus. Wenn sie Diskussionen unterbindet, wirkt sich das auf das Kollektiv aus. Indem sich die Kirche zum Bollwerk gegen das Neue etabliert und zu Felsen in der Zeit macht, wird sie zu einem Felsen, um den das Wasser herum fließt. Wenn sogar der stete Tropfen den Stein höhlt, gelingt das fließendem Wasser noch besser.

So verbaut sich ein Kollektiv die Chance der eigenen Heilung. Heilungshindernisse im großen Maßstab, nicht nur bei einzelnen Abweichlern, die nur bestraft werden.

Schuld hinterfragt nicht, da das Kollektiv in einer Angst vor jeglicher Hinterfragung lebt. Solches Kollektiv wird altern und vergehen, da es durch die Bestrafung Andersdenker und Hinterfragender neue Entwicklungen übersieht und unterdrückt.

Es heilt nicht, was sich nicht verändert und erneuert. Es stirbt. Nicht die Abweichler sind daran schuld, es ist das System selbst dafür verantwortlich.

Es gibt keine erste Schuld

Wer Spiritualität für sich in Anspruch nimmt, muss das Konzept der Schuld hinterfragen. Er muss die mit der Schuld arbeitenden Institutionen und Kollektive hinterfragen. Er muss nach den Gründen eines schuldhaften Vergehens fragen.

Spiritualität beachtet die Biographie eines vermeintlich Schuldigen, sie beachtet seine Seele. Die Seele wohnt einem jeden Wesen inne, ergo in jedem Abweichler, in jedem Menschen, den die Gesellschaft zum Verbrecher erklärt, den die Gesellschaft ausschließt. Vor zweieinhalb Jahrtausenden sagte Plato:
»Sei gütig, denn alle Menschen, denen du begegnest, kämpfen einen schweren Kampf.«

Wer leichtfertig von Schuld spricht, ist dieser Güte nicht fähig. Wer leichtfertig von Schuld spricht, denkt kurzsichtig. Wer leichtfertig von Schuld spricht, verdrängt die Möglichkeit einer Mitschuld. Einer Mitschuld des Umfelds, des Kollektivs, der Gesellschaft, des politischen oder religiösen Systems.

Die Schuld kann in dem Abweichler liegen, in seiner Biographie, in seiner Psyche. Wer zu Gewalt neigt, kann Gewalt selbst erlebt haben. Eine Binsenweisheit ist das, die dennoch diejenigen missachten oder verdrängen, die Schuld aussprechen und bestrafen. Schuldigsprechen und Bestrafen ist bequem, Hinterfragen ist komplex. Schuldigsprechen und Bestrafen hilft, die Fragen nach dem eigenen Beitrag zu einer Schuld zu verdrängen und sich hinter dem Wohl eines Kollektivs zu verbergen.

Ist der Schuldige schuldig? Sind es seine Eltern? Sind es die Eltern der Eltern? Ist es ein Staat, ein System, eine Religion, ist es die Geschichte, die die Schuld trägt?

Verdrängen, missachten, nicht zu hinterfragen, die Biographie eines Menschen missachten. All das gelingt einem Staat oder einer institutionalisierten Religion. Spiritualität ist das keine.

Dabei müssten doch gerade religiöse Institutionen wissen, was Spiritualität ist. Gerade sie müssten wissen, dass es keine erste Schuld gibt. Diese Gründe haben wiederum ihre Gründe. Jeder Grund hat einen Grund, der wiederum seinen Grund hat. Den ersten Grund gibt es nicht.

Eva ist nicht der erste Grund der Sünde, denn diese gemeine Herabwürdigung der Frau entstammt einem Männerzirkel, der damit seinen Machtanspruch auf ewig zu festigen versuchte. Wenn sie denn von Schuld sprechen wollen, sollten sie sich selbst betrachten.

Allen voran jedoch ist der Begriff »Schuld« zu hinterfragen. Verantwortung und Mitverantwortung wären zutreffender. Aber unbequemer eben.

In einer Abwandlung eines biblischen Spruches: Wer ohne Schuld ist, der werfe den ersten Stein.

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