Hinterfragt: Nimm dich nicht so wichtig …

Nimm dich nicht so wichtig. Lache über dich. Dies hörte ich in einem Radiobeitrag zum Aschermittwoch.

Ich finde, das darf man hinterfragen. Man kann auch sagen, ein differenziertes Denken tut gut. Zum differenzierten Denken aber später.

Nimm dich nicht so wichtig …

Nimm dich nicht so wichtig. Diesen Spruch, den man einem Papst zuschreibt, kann man öfter vernehmen. Man bejaht dies meistens, wie bei vielen anderen klugen Sprüchen.

Zu jedem Spruch gibt es Gegensprüche, die einander widersprechen. Giordano Bruno meinte beispielsweise: Jeder Mensch ist sein eigener Mittelpunkt.

Giordano Brunos Sprüchen muss man jedoch nicht glauben. Ihn hat die heilige Inquisition verurteilt und auf dem Scheiterhaufen verbrennen lassen. Unter anderem wurde er deshalb verbrannt (ermordet träfe auch zu), weil er das Universum als unendlich und ohne ein Zentrum betrachtete. Eine Selbstverständlichkeit heute. Immerhin konnte sich die Kirche nach genau 400 Jahren dazu entschließen, die Hinrichtung als Unrecht zu betrachten. Bruno selbst wurde jedoch nicht rehabilitiert.

Sein eigener Mittelpunkt

Jeder Mensch ist sein eigener Mittelpunkt. Was kann das alles bedeuten? Zunächst mal, dass jeder Mensch für sich wichtig ist, er könnte sonst kein Mittelpunkt sein.

Mittelpunkt bedeutet auch Stabilität. Bin ich in diesem Sinne stabil, kann ich mich den anderen und der Außenwelt zuwenden. Und gestehe ich jedem anderen zu, dass er eben sein eigener Mittelpunkt ist, können wir als reife Menschen zusammenleben.

Darf ich mich aber nicht wichtig nehmen, verlange ich Gleiches auch von den anderen. Dann ist die Menschheit eine Menge unwichtiger Leben. Und dafür soll sich Jesus kreuzigen lassen?

Carl Rogers, ein amerikanischer Psychologe und Psychotherapeut des vergangenen Jahrhunderts. Als Entwickler der klientenzentrierten respektive personenzentrierten Psychotherapie, gehört er zu den bekanntesten Psychotherapeuten. Die folgenden Zitate stammen von ihm.

  • Die Selbstakzeptanz ist der erste Schritt zur echten Akzeptanz anderer.
    Warum sollte ich etwas Unwichtiges akzeptieren – gleich ob mich oder die anderen.
  • Wahres Glück besteht darin, sich selbst anzunehmen und mit sich selbst in Kontakt zu kommen.
    Warum sollte ich etwas Unwichtiges annehmen – gleich ob mich oder die anderen.
  • Das seltsame Paradoxon ist, dass, wenn ich mich so akzeptiere wie ich bin, ich die Möglichkeit erlange, mich zu verändern.
    Das setzt jedoch voraus, dass ich mich wirklich wichtig nehme.
  • Ich bin nicht perfekt … Aber ich bin genug.
    Sich als nicht perfekt zu akzeptieren, ist Weisheit. Eine Weisheit, die zwar häufiger zu finden sein mag, leider nicht immer. Auch nicht immer bei Machtmenschen, erinnert man sich mancher Politiker – auch in Europa.
  • … Aber nicht genug.
    Denn immer kann ich lernen, mich weiterzuentwickeln, zu reifen.

… lache über dich

Nimm dich nicht so wichtig – lache über dich. So lautete der vollständige Satz, der mit einem zum Aschermittwoch passenden Pathos vorgetragen wurde.

Wer über sich selbst authentisch lachen kann, also nicht auf Anforderung anderer, geht wahrhaftig leichter durch Leben. Er kann leichter mit den anderen umgehen, ihm fallen Toleranz, Friedfertigkeit, Empathie etc. leichter.

Es wird jedoch kaum einem Menschen gelingen, über sich selbst zu lachen, wenn er sich selbst nicht wichtig nimmt, somit keinen gesunden Selbstwert hat.

Ein weiteres Zitat von Carl Rogers: Weder die Bibel, die Propheten noch die Offenbarungen Gottes oder der Menschen. Nichts hat Priorität gegenüber der Erfahrung.

Was von dem Gesichtspunkt der Wichtigkeit meines Selbst bedeutet, ich bin der wichtigste Mensch bei meinem Lernen und bei meinen Entscheidungen. Ich muss mich also wichtig nehmen.

Das Internet kennt einige Auslegungen dieses Zitats von Roger. Wie man das jedoch auslegen mag, es schwingt Entscheidendes mit dabei: die Eigenverantwortung. Meine Erfahrungen, mein Lernen. Nicht Heilige, nicht Gurus, nicht Prominente. Schlussendlich entscheide ich. »Ich habe das nur gemacht, weil er, sie, die da, die Gruppe, die meisten …« Nein, das akzeptieren weder eine Seele noch ein Gott.

Und versuchte ich, nach den Meinungen anderer zu entscheiden und zu handeln, mögen sie auch als Heilige gelten, so bleibt immer etwas bei mir, immer werde ich mit etwas konfrontiert, immer muss ich mich einem stellen und es bewältigen. Es sind die Konsequenzen. Denn immer bin ich für mein Tun und Nichttun selbst verantwortlich.

Differenziertes Denken

Nun zu dem eingangs angesprochenen differenzierten Denken, damit man nicht kritiklos Sprüchen glaubt und sie anderen an den Kopf wirft.

Mit dem differenzierten Denken ist es nicht so einfach. Nicht nur in totalitären Regimen, sondern leider auch in unserem Lande. Es geht sich eben leichter durchs Leben, wenn man sich der vorherrschenden Meinung anschließt. Da ist man anerkannt moralisch, die anderen eben nicht. Aktuell sind die anderen oft rechtsradikal.

Differenziertes Denken sieht wesentlich anders aus. Für dieses Denken gibt es kein Schwarz-Weiß. Differenziertes Denken kann zwar mal nahe bei Schwarz, mal nahe bei Weiß sein. In aller Regel sind es jedoch unterschiedliche Grautöne.

Für manche scheint das differenzierte Denken gefährlich zu sein. In Zeiten von Social Media kann oder muss man mit einem Shitstorm rechnen. Oder schlimmer. Eine Anzeige ist schnell gestellt – und die Karriere zerstört. Oder schlimmer.

Also lieber nicht auffallen, lieber die eigenen Gedanken für sich behalten, lieber nach außen hin mit dem Mainstream gehen.

Mainstreams zu folgen ist bequem. Wobei noch bequemer wäre es, sich gar keine komplizierten Gedanken zu machen. In meiner Social-Media-Bubble werde ich bestätigt. Einige Likes sind rasch erledigt. Eine positive Nebenwirkung: Ich gelte als moralischer Mensch.

Aber

Wäre da nicht das fatal gute Gedächtnis des Internets. Wie reagiere ich, wenn sich die Meinung des Mainstreams ändert, ich aber weiterhin dazugehören will?

Eine eigene Meinung ist auch von diesem Gesichtspunkt her besser. Es besteht überdies keine Verpflichtung, die eigene Meinung in Social Media lauthals zu verbreiten.

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