Wenn beide Streitpartner recht haben und der Streit verbindet

Ausführlicher im ersten Band der Reihe »Mission Gemeinsam« über die Liebe

Streit verbindet

Widerspruch? Ungutes Gefühl, Angst? Zieht sich der Magen zusammen? Sicher, ein Streit kann stören und sogar zerstören.

Ein Streit kann wie ein Messer sein. Ich kann ein Messer in die Hand nehmen, um ein Brot zu teilen und auch anderen etwas davon zu geben. Ist das Messer gut? Ich kann dasselbe Messer für gänzlich andere und weniger ethische Zwecke einsetzen. Ist das Messer schlecht?

Das Messer ist ein Messer, es ist weder gut noch schlecht. Wie bei dem Messer kommt es auf mich an, wie ich mit einem Streit umgehe, wie und wozu ich einen Streit einsetze.

Die Polaritäten des Streits

Streit muss nicht notwendigerweise Unfrieden, Zwietracht oder gar Tätlichkeiten bedeuten:

  • Der Begriff „Streitkultur“ weist deutlich daraufhin, dass es andere Formen des Streits geben kann, als nur die zerstörerischen.
  • Goethe schrieb „im Ehestand muss man sich manchmal streiten, denn dadurch erfährt man etwas voneinander“, wobei wir ruhig den Ehestand durch Beziehungen ersetzen können.
  • In der Rhetorik und der Philosophie gibt es die Eristik, also die Kunst und die Technik der Streitgespräche. Den konstruktiven und den sachlichen Streit gibt es ebenfalls.

All das kann interessant und hilfreich sein. Aber eher nur dann, wenn wir uns damit auf der sachlich-logischen Ebene und mittels Literatur beschäftigen möchten.

Was aber, wenn der Streit präsent ist, wenn ich mich in einem Streit vorfinde, unabhängig von der Frage danach, wer diesen Streit begonnen hat? Hier versagt meistens die logisch-sachliche Ebene, hier zieht sich der Magen zusammen, da stellen sich die Nackenhaare auf, die Stimme wir lauter und lauter. Tipps aus der Literatur? Die helfen hier nicht immer.

Streitfreie Beziehungen – das ist nicht das Leben

Nicht unwahrscheinlich, dass wir Beziehungen privater oder geschäftlicher Natur kennen, die ohne Streit auszukommen scheinen. Es geht dabei nicht um Beziehungspartner, die eine interne Übereinkunft darüber getroffen haben und sich daran halten, Streit nicht öffentlich, sondern nur innerhalb der Beziehung auszutragen.

Vielmehr geht es hier um Beziehungen, in der die Partner verkünden, nie zu streiten. Solche Beziehung wäre nur möglich, wenn beide Partner zu jedem Thema identische Meinungen hätten. Wäre das der Himmel auf Erden? Würde ich in einem solchen Beziehungshimmel leben wollen? Könnte ich darin Neues lernen [*], neue Sichtweisen erfahren? Könnte ich mich auf den Partner einlassen, wäre er interessant?

Hart vielleicht, dennoch kommt es mir in den Sinn, dass es wohl eine tote Beziehung wäre.

Die Lebenserfahrung deutet in solchen streitfreien Beziehungen doch eher darauf hin, dass hier der Streit unterdrückt wird. Dass nicht ausgesprochen wird, was gerne gesagt werden würde, sondern heruntergeschluckt wird. Wie lange geht solches gut?

Rabattmarken-Sammler

In der Psychotherapie sind die Rabattmarken-Sammler bekannt. Auf die Streitunterdrückung übertragen käme jede Unterdrückung dem Ankleben einer Rabattmarke in einem Rabattmarkenheft gleich. Irgendwann fällt es einem Partner auf, dass sein Heft voll ist.

Und dann wird dieses innere Heft dem anderen Menschen präsentiert. Nicht ruhig sachlich, sondern stark emotional und in einem für den anderen völlig zusammenhangslosen Moment.

Besonders unverständlich fällt die Präsentation dann aus, wenn es bereits ein dickes Heft geworden ist. Bei der Frage „Was hast du denn jetzt plötzlich?!“ wird es da wohl nicht bleiben.

Die seelische Ebene eines Streits – wenn beide recht haben

Sehr oft und vor allem in Beziehungen resultiert ein Streit daraus, dass das Streitobjekt emotional unterschiedlich empfunden wird und so zu unterschiedlichen Reaktionen führt. Das ist jedoch normal!

Jeder Mensch hat seine eigene und sehr individuelle Vergangenheit, die ihn geprägt hat. Diese Prägungen führen dazu, dass bestimmte Ereignisse oder Äußerungen unterschiedliche emotionale Reaktionen in uns auslösen. Im Extremfall kann dies eine sehr heftige Reaktion bei dem einen und gar keine bei dem anderen hervorrufen. Ein sehr gutes Beispiel dafür sind die inneren Kinder, die eben sehr unterschiedlich sein können.

Vielleicht haben wir Geschwister und haben es selbst erlebt oder konnten es bei anderen Geschwistern beobachten, dass in Gesprächen über die Eltern, diese Eltern in einem sehr unterschiedlichen Licht erscheinen. Manchmal kann sogar der Eindruck entstehen, sie hätten keine gemeinsamen Eltern.

Wer hat nun recht? Diese Frage kann auf der logisch-sachlichen Ebene nicht beantwortet werden. Rein logisch-sachlich funktioniert kein Mensch, unser Denken lässt sich nicht vollständig durch Theorien beschreiben, damit es uns, in Algorithmen gepresst, eine eindeutige Antwort liefern könnte.

Streit, der verbindet

Wenn jedoch beiden Streitpartnern die unterschiedlichen Erfahrungsebenen bewusst sind, verliert der Streit seine Spitzen. Aus dem Streit wird ein Erfahrungsaustausch, der zu einem stärkeren gegenseitigen Verständnis führt.

Die Ich-Botschaften sind eine sehr empfehlenswerte Kommunikationstechnik, um Konfrontationen zu entschärfen. Also z. B. nicht „Du siehst es falsch“, sondern „Ich sehe/empfinde das so“.

Das Verbindende beginnt nun mit der Ich-Du-Botschaft: „Ich sehe das so und du siehst es anders.“ Mit der Beachtung der individuellen Erfahrungsebenen wird für die Streitpartner nachvollziehbar, dass sie unterschiedliche Sichtweisen [*] haben können und dürfen, ja, müssen. Und dass jeder Streitpartner mit seiner anderen Sichtweise für sich genommen recht hat.

Die Stärkung der Verbindung ist sogar unvermeidlich, wenn beide Partner mit der Ich-Du-Botschaft arbeiten können und es interessant finden, sich mit den Gründen dieser unterschiedlichen Sichtweisen zu beschäftigen. Besonders in Partnerschaften führt diese Beschäftigung zu einem immer stärkeren Verständnis füreinander und zum stärkeren Vertrauen, da die Partner ihre unterschiedlichen Ansichten ohne Angst vor einem Streit und ohne Rabattmarkenhefte austauschen können.

Diese Partner lernen nicht nur den jeweils anderen besser kennen und verstehen, sondern natürlich auch sich selbst. Der Austausch über die gemachten Erfahrungen ist nebenbei eine kaum versiegende Gesprächsstoffquelle.


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