Glaube, Achtsamkeit und kleine Wunder; die Wurzeln der Spiritualität im Alltag

Spiritualität – ihre und unsere Wurzeln; Teil 2

Spiritualität ist nichts Welt- und Lebensfremdes, sie kann im Alltag gelebt werden. Dafür ist aber ein gesundes Selbstbewusstsein erforderlich, welches sich nicht von den Meinungen anderer Menschen verunsichern lässt.

Spiritualität kann sich in Erlebnissen äußern, die so grundverschieden von den gewohnten Alltagserlebnissen sind und so starke Eindrücke hinterlassen, dass dadurch aus dem Glauben an Spiritualität, wie im ersten Teil beschrieben, eine spirituelle Gewissheit wird.

Achtsamkeit im Alltag

Erlebnisse der spirituellen Art sind immer möglich. Es sind Geschenke, die nicht nur Gurus und Asketen empfangen können. Den Empfang dieser Geschenke begünstigt außer dem Glauben daran eine Achtsamkeit im Alltag, damit sie nicht übersehen werden.

Spiritualität ist in den kleinsten Dingen enthalten. Sie kann sich uns erschließen, wenn wir im Winter die Knospen betrachten und das in ihnen angelegte Leben wahrnehmen. Das Leben, welches im Frühjahr gesehen oder gerochen oder in dem Wind gehört werden kann, der durch die Blätter streicht.

Mit dieser Achtsamkeit sollten wir jedem Mitmenschen begegnen; auch wenn wir einen Menschen weniger mögen. Wir wissen nicht, welche Lernwege seine Seele durchschreitet, welche Prägungen dieser Mensch verarbeitet. Sie könnten grauenvoll sein, wenn wir Prägungen aus den Vorleben nicht ausschließen können.

Das Leben hinterfragen

Das Leben der Menschen, die spirituell im Alltag leben wollen, scheint kompliziert zu sein. Die hinterfragenden Menschen werden mit wesentlich mehr Fragen konfrontiert. Und sie sehen sich Fragen gegenüber, auf die es keine einfachen oder noch gar keine Antworten gibt.

Ein trockenes Fazit könnte lauten: Bewusst spirituelle Menschen machen sich das Leben unnötig schwer. Sie verschwenden Zeit für Dinge, die nicht lebensnotwendig sind oder schlicht sinnlos.

Ein Mensch jedoch, der eine Entwicklungsstufe erreicht hat, in der seine Seele den Blick auf die in allem Sein vorhandene Spiritualität freizugeben beginnt, dieser Mensch sieht das natürlich anders. Für diesen Menschen ist das Leben ohne zu hinterfragen einfach nicht mehr möglich.

Human Resources anstatt Menschen

Es ist aber ein Entwicklungsweg erforderlich, bis ein Mensch seine Spiritualität selbstbewusst leben kann. In einer Welt, in der Spiritualität ausgeschlossen wird, werden den Mitmenschen Etiketten vergeben, die nur das Offensichtliche berücksichtigen. Welch ein unzulässig simples Bild eines Menschen! Es nimmt dann nicht Wunder, dass Menschen im Arbeitsleben nicht als Wesen mit einer Seele betrachtet werden.

In einer Welt, in der Spiritualität keine Daseinsberechtigung hat, sind Menschen Human Resources, die von Human Resources Managern gemanagt werden. In dieser Welt ist es nicht immer leicht, das spirituelle Bewusstsein zu bewahren und achtsam zu leben. Das ist aber wichtig, denn wir wissen nicht, wann und wie uns ein Geschenk des kleinen Wunders erreicht.

Die kleinen Wunder des Alltags

Gehen wir mit dem Glauben und der Achtsamkeit durchs Leben, erfahren wir, dass diese Geschenke nicht nur in einem asketischen Leben, nicht nur innerhalb eines Klosters oder einer spirituellen Gruppe möglich sind. Diese Geschenke begleiten uns auf Schritt und tritt. Sie sind alltäglich, doch da der Verstand sie nur selten wahrnimmt, erwecken sie den Anschein einer Rarität oder eines nicht erreichbaren Idealzustands.

In den meisten vorangegangenen Leben war eine Spiritualität im Alltag selten möglich. Das Leben war ein Kampf ums Überleben, es war kurz, es war Glück, ein Alter zu erreichen, in dem man die eigenen Kinder als Erwachsene erlebte. Für eine gelebte Spiritualität blieb da wenig Raum übrig.

Das Leben heute ist zwar wesentlich komplexer und schneller geworden, dennoch bekommen wir immer mehr Gelegenheit dazu, die Spiritualität im Alltag zu suchen und zu leben. Waren die alten Zeiten wirklich so gut, waren sie besser?

Leben wir daher im Heute und achtsamer, damit wir unsere kleinen Wunder des Alltags nicht übersehen. Damit wir uns an ihnen erfreuen und den Alltag öfter genießen können.

Ein Wunder im Alltag: Die Einheit der Bäume

Es gehört manchmal Mut dazu, spirituelle Erlebnisse mit anderen Menschen zu teilen. Der Wunsch danach kann überwältigend sein, denn diese Erlebnisse tragen dazu bei, dass aus dem Glauben an Spiritualität erlebbare Realität wird. „Es gibt sie doch!“, möchte man den Lieben sagen. Doch wenn man es ihnen sagt und dann belächelt oder für einen Menschen etwas außerhalb der Normalität gehalten wird?

Ich mag ein Beispiel für solches Erleben bringen aus einer Zeit, in der ich inmitten rational denkender Menschen lebte. Ich wusste um das Wurzelwerk der Bäume, zu dem nicht nur die Baumwurzeln selbst gehören, sondern auch die Mykorrhiza. Die Mykorrhiza ist eine Symbiose, ein Zusammenleben nach dem Geben-und-Nehmen-Prinzip zwischen Pflanzen und Pilzen. Die Pilze liefern den Pflanzen Nähstoffe aus dem Boden und erhalten vom Baum die Nährstoffe, die nur mithilfe der Photosynthese gebildet werden können. Die Mykorrhiza stellt sogar eine Verbindung zwischen den Bäumen her.

Das wusste der Verstand. Die Seele hörte aber, dass Bäume damit untereinander kommunizieren, da sie Informationen unterirdisch austauschen können.

In meiner Kindheit erlebte ich eine Großmutter, die immer wieder ein Wort mit ihren Pflanzen wechselte. Dabei erfuhr sie beispielsweise, wann die Pflanzen gegossen werden wollen. Auch für meinen Großvater was das Wissen um den richtigen Zeitpunkt selbstverständlich. Ich erlebte ihn, für mich damals der Inbegriff eines starken Mannes, wie er sich achtsam einem Baum nähern, seine Hände auf ihn legen und dann ruhig verharren konnte. „Der Baum kann erzählen“, erklärte er mir.

Bin ich ein Baum? Bin ich Bäume?

Diese Erlebnisse der frühen Kindheit habe ich auch dann nicht vergessen, als ich Vater wurde und einem Beruf nachging, der nur den Verstand befriedigte. Aber der Glaube an die Spiritualität blieb. Im Wald umarmte ich schon mal einen Baum, der mich dazu einlud. Bei frisch gefällten Bäumen machte ich eine Trauerarbeit, indem ich mich auf den Baumstumpf stellte, die Augen schloss, die Arme wie Baumäste ausstreckte und mir vorstellte, eine Verlängerung des Baumes über den Stumpf hinaus zu sein. Damit wollte ich dem Baum die Möglichkeit geben, einen Abschied von den anderen Bäumen zu nehmen und so seine Trauer zu beenden.

Neben meinen Großeltern und dem Wissen um die Mykorrhiza ist vielleicht auch Alexandras Lied „Mein Freund der Baum“ ein Grund dieser Trauerarbeit. Natürlich führte ich sie ausschließlich unbeobachtet durch.

Nun sah ich wieder einen frischen Baumstumpf. Den Rest der Familie schickte ich unter einem Vorwand voraus. Ich stellte mich barfüßig auf den Baumstumpf, schloss die Augen und breitete meine Arme aus.

Und dann verlor ich mich; das Ich hörte auf zu existieren. Ich spürte kein raues Holz mehr unter meinen Fußsohlen, das Wahrnehmen verlängerte sich in die Erde hinein und breitete sich augenblicklich weiter aus, es schloss die anderen Bäume ein, sogar die sehr weit entfernten. Und es ging weiter. Denn nun spürte oder fühlte ich, wie die Verbindung nicht nur das sehr weitverzweigte Wurzelwerk der Bäume umfasste, sondern über die Baumstämme zu den Kronen hin und darüber hinauswuchs.

Darüber hinaus!

Mit geschlossen Augen sah ich, ich kann es nicht anders beschreiben, wie über all den Bäumen des Waldes ein Etwas vibrierte, vielleicht etwas grauer als der Raum darüber, und wie es die Baumkronen miteinander verband.

War ich nun der gefällte Baum? Nein, ich war Bäume, denn es gab keine Grenze zwischen den Bäumen, es war alles ein einziges Sein. Die Bäume und das, was dazugehört aber für die Augen unsichtbar ist, war ein Sein, dessen Teil auch der Mensch war, der da barfüßig auf dem Baumstumpf stand.

Wenn ich die Beiträge der Reihe „Denn jedem Lebewesen wohnt eine Seele inne“ schreibe, begleiten mich immer die Erinnerungen an dieses und an ähnliche Entgrenzungserlebnisse. Das Schreiben ist nicht nur Theorie und Glaube daran, sondern etwas Erlebtes.

Zurück zu den Wurzeln

Dieses Erleben kam so plötzlich, dass ich – allen Göttern sei Dank – meinen Verstand zunächst nicht einschalten konnte. Denn eine Zeit später, eine Sekunde?, mehrere Sekunden?, ich weiß es wirklich nicht, kam der Verstand und fragte nach der Verbindung oberhalb der Kronen, anstatt sie einfach nur hinzunehmen.

Dieses Erleben, welches ich viele Jahre für mich behielt, verhalf nicht nur zur Stärkung des Glaubens an die Dinge hinter den Dingen. Es machte mir die Wichtigkeit und gleichzeitig die Einfachheit und Alltäglichkeit der Wurzeln einer Spiritualität bewusst.

Diese Wurzeln liegen im Alltag, sie liegen aber auch in dem Kulturkreis, in dem wir leben. Das sind die heimischen Wurzeln, zu denen wir einen leichteren Zugang haben. In unserem Fall gehört dazu unser keltisches Erbe, welches trotz der langen Zeit der Unterdrückung sehr stark in uns, in unserem Alltag, in unserem Glauben, in unseren Ritualen vorhanden ist und immer noch wirkt.

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